Man erzählt sich, dass fern unserer Zeit, damals als das Nordlicht noch leise sang und die Welt im Atem der Götter ruhte, eine Frau mit langen silbernen Haar über die Hügel des Nordens wanderte. Ihr Mantel war aus dem Nebel selbst gewebt, ihr Stab aus Eibenholz, und in ihren Augen glomm das Feuer der Sterne. Die Menschen nannten sie Völva, denn ihr wahrer Name war längst verstummt, verloren, und verflogen im Lied der Stürme.
Die Menschen erzählten sich, dass sie den Wind binden könne, den Regen rufen, das Herz eines Menschen heilen oder brechen, und den Lauf des Schicksals berühren könne, aber nur so weit, wie das Gewebe, das Netz der Welt dies zuließ. Denn sie war eine Hüterin des uralten Wissens, ein Wissen das die Götter selbst einst den Sterblichen schenkten, die Kunst des Seiðr.
Der Seiðr, die tiefe Weisheit von Weben und Sehen, fühlen, formen und wirken. Es war kein einfacher Zauber der sich aus Worten formte, sondern es waren Energien und Schwingungen, aus Atem und Klang. Die Alten sagten, das Wort selbst ist eng verbunden mit der Saite, dem Faden, der Schnur, dem Band, denn wer den Seiðr wirkte, zog unsichtbare Linien zwischen den Welten.
Freyja, die goldene Göttin der Liebe, Magie und auch des Krieges, war die Erste, die diese Kunst in sich trug. Sie lehrte sie jenen, die den Mut hatten, in die Dunkelheit zu blicken, ohne zu fliehen. Sogar Odin, der Allvater, verneigte sich vor ihrem Wissen und wagte es, den Seiðr von ihr zu erlernen, doch es flüsterten die Männer, er habe damit seine Würde verloren. Denn Seiðr war keine strukturierte, klare Magie. Sie war Hingabe. Ekstase. Öffnung. Empfänglichkeit. Leidenschaft. Sinnlichkeit. Sie war und ist urweiblich, im tiefsten und heiligsten Sinne.
In den Nächten, wenn der Wind vom Meer heraufzog und die Welt zwischen Atemzügen stand, dann stieg sie, die Völva auf ihren Hochsitz, den Seiðhjallr. Dort sangen sie die alten Lieder, die Varðlokkur, die Lockgesänge für ihre Geister und Ahnen. Ihre Stimmen waren oft kaum mehr als ein Lufthauch, doch es öffneten sich Tore, durch die der Schleier der Zeit dünn wurde.
Dann begann ihr Sehen.
Die Welt wurde für sie zu einem Gewebe aus Lichtfäden, schimmernd und vibrierend. Zwischen ihnen floss das Schicksal, wandelbar, atmend, und niemals starr. Die Völva sah die Menschen, deren Wege sich kreuzten, Nationen, die sich erhoben und vergingen, Winde, die das Gleichgewicht der Welt trugen, die Erde die sich öffnete, sie sah mächtige Feuer lodern, Wasser die alles fluteten. Und manchmal, doch nur im äußersten, wenn die Dunkelheit zu stark, zu laut, zu zerstörend wurde, griff sie in dieses Gewebe ein. Doch es lag ihr fern, etwas zu beherrschen, ihr Anliegen lag im harmonisieren, besänftigen und lieben. Sie sang mit den Göttern, den Wesenheiten der Erde um die Wellen zu glätten, wo Zorn, Gier, Eifersucht, Hass, Neid oder Schmerz das Muster verzerrten.
Die Tiere der Nacht wussten, wann sie sah, webte, flüsterte. Dann setzten sich Raben in die Zweige, Füchse hielten inne, und selbst der Wind schien ihr zu lauschen. Denn ihr Reden war Erinnerung. Erinnerung an das, was die Welt im Innersten zusammenhielt.
Doch Seiðr war auch nie gefahrlos. Wer zu tief in das Gewebe eingriff, wer ohne Demut webte, konnte sich im eigenen Muster verlieren. Die Seherinnen sie wussten das. Darum gingen sie mit langsamen Schritten, wählten ihre Worte Weise wie Tropfen aus Silber und Gold, sie ließen den Klang aus dem Herzen hinaus tragen. Da sollte kein Ego, kein sich beweisen mehr sein. Denn hier ging es nicht um das außen, Kontrolle oder Schönheit, es war einzig und allein die Wahrheit, die Quelle die sich ihren Weg bahnte.
Und wenn sie sprach, sprachen auch die Elemente mit ihr. Das Feuer flackerte, als würde es nicken. Das Wasser kräuselte sich, wenn eine Wahrheit berührt wurde. Die Luft flimmerte in ihrer Schwingung. Und die Erde selbst vibrierte im Rhythmus ihres Atems.
Die Menschen kamen zu ihr, mit Fragen, mit Ängsten, mit gebrochenen Herzen und Schmerzen. Sie suchten Antworten, doch die Völva, gab ihnen keine einfachen Worte, sie sprach oft in Rätsel. Sie zeigte ihnen ihr eigenes Spiegelbild in der Dunkelheit. „Sieh“, sagte sie, „nicht alles, was verborgen ist, ist Feind. Manches ist einfach nur noch nicht geboren.“
Und so lernten jene, die zuhörten, dass Seiðr mehr ist als eine Weissagung. Es ist Bewusstsein. Eine Erinnerung an das Netz, das alles Leben verbindet, über Zeit, Raum, Form und Schicksal hinaus.
Und es ward in jener Nacht, als das Nordlicht still über den Himmel glitt, da flüsterte die Völva ein letztes Wort. Sie sang von Freyja, ihrer lieben Frau, Mutter und Lehrerin von Schwingung, Liebe und Magie. Sie sprach auch von Odin, dem Suchenden im Sturm. Sie stimmte ein Lied an, sang von den Frauen, die nach ihr kommen würden, die die alten Fäden wieder aufnehmen, damit die Welt sich nicht erneut im Dunkel verliert.
Und wer in jener Nacht mit dem Herzen lauschte, der hörte zwischen Wind und Herzschlag die Wahrheit. Denn Seiðr ist keine Vergangenheit. Er ist Erinnerung und lebt in jeder Seele, die fühlen kann. In jeder Hexe, die sieht und in jedem Atemzug, der zwischen den Welten schwingt. Und sie spricht, erhebt ihrer Stimme Klang wenn die Zeit dafür angebrochen, und dies schon ganz bald.
Maria Solva Roithinger